Stellungnahme der DGHM zur Ausbreitung von SARS-CoV in Deutschland
Hannover, 24. März 2020
Die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM) ist die größte deutsche wissenschaftliche Fachgesellschaft der Hygiene und Mikrobiologie, in der insbesondere auch Spezialisten der Infektionsepidemiologie, Krankenhaushygiene und Infektionsprävention organisiert sind. Mitglieder der DGHM sind in Kliniken der Maximalversorgung in Deutschland verantwortlich für die Infektionsdiagnostik sowie die Koordination und Umsetzung von Maßnahmen zur Verhinderung von Infektionsübertragungen in den Kliniken.
Entwicklung und Stand der SARS-CoV-2-Epidemie in Deutschland sind hinlänglich bekannt. Nun liegen umfangreiche Daten zur Situation in Deutschland vor, die vor dem Hintergrund der Ausbreitung des Virus in anderen Ländern der Welt bewertet werden können. Epidemiologische Modellierungen sowie tatsächliche Auswirkungen nicht-medizinischer Interventionsstrategien liegen vor oder werden sichtbar.
Deutschland ist derzeit mit seinem starken Gesundheitssystem, insbesondere auch im Bereich der Infektionsmedizin (Diagnostik, Therapie, Prävention von Infektionskrankheiten) und Intensivmedizin, sowie mit einer wahrscheinlich guten Erfassung der Virusausbreitung in einer im internationalen Vergleich relativ guten Position. Gleichzeitig zeigt die Entwicklung der Virusausbreitung in Deutschland zweifelsfrei, dass die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie nicht ausreichend sind. Bei aller Unsicherheit der zukünftigen Dynamik besteht kaum Zweifel an einer deutlichen Zunahme von Krankheitslast und Todesfällen ebenso wie der kommenden Überlastung der Kapazitäten der stationären Krankenversorgung und Intensivbehandlung.
Vor diesem Hintergrund ist unserer Ansicht nach, die Ausweitung der Maßnahmen der Infektionsprävention dringend geboten.
- Maßnahmen zur unmittelbaren Reduktion der Zahl von Übertragungen sind unerlässlich. Die nun beschlossenen Maßnahmen von Bund- und Länderregierungen sind ein wichtiges Signal. Die Situation muss ständig überprüft werden, auch unter Bezugnahme auf Erfahrungen anderer Länder, und die Maßnahmen müssen ggf. in beide Richtungen angepasst werden. Das Tragen eines Mund-/Nasenschutz kann helfen, Ansteckungen auch unter asymptomatischen Personen zu reduzieren. Es sollte geprüft werden, ob und wie Menschen zum Tragen eines solchen Schutzes in öffentlichen Bereichen ermutigt werden können, wenn die „Abstandsregel“ (optimal zwei Meter) nicht sicher eingehalten werden kann. Die regelmäßige Desinfektion von Kontaktflächen in öffentlichen Bereichen (Geländer, Haltestangen im Bus etc.) ist ebenfalls eine wichtige Schutzmaßnahme, die eingesetzt werden sollte.
- Die Information der Öffentlichkeit über die Entwicklung der Epidemie sowie den Wert einzelner Maßnahmen zur Infektionsprävention muss intensiviert werden. Zahlreiche Beispiele aus der krankenhaushygienischen Praxis belegen den Wert kontinuierlicher, repetitiver Information und Schulung. Während große Anteile der Bevölkerung gut informiert sind und Hygienemaßnahmen annehmen, hat es den Anschein, dass andere Gruppen weiterhin die Bedeutung der Infektionsprävention – insbesondere über die eigene Ansteckung hinaus – nicht akzeptieren und sich auch eklektisch Fehlinformationen und wissenschaftlich falsche Ansichten zu eigen machen. Hierbei stellen wir fest, dass insbesondere in sozialen Medien „Informationen“ – z.T. auch von infektionsmedizinischen „Experten“ – verbreitet werden, von denen anzunehmen ist, dass sie eine hohe Aufmerksamkeit erhalten. Zentral koordinierte, deutlich ausgeweitete Aktivitäten zur Information insbesondere der jungen Bevölkerung durch verschiedene Massenmedien und soziale Netzwerke sind unserer Ansicht nach von großer Bedeutung, gerade auch zur Richtigstellung genannter Fehlinformationen
Diese unmittelbaren Schritte zur Eindämmung der Epidemie müssen durch weitere Maßnahmen flankiert werden.
- Die flächendeckende Möglichkeit zur indizierten Testung auf SARS-CoV-2 muss sichergestellt sein. Während die diagnostischen Labore deutschlandweit unter größtem Einsatz daran arbeiten, Virusnachweise durchzuführen und Methoden lokal zu validieren, ist die Verfügbarkeit von Testreagenzien z. T. noch nicht sichergestellt. Falls die Verfügbarkeit auf dem deutschen Markt nicht anders gesichert werden kann, ist auch an eine Intervention politischer Institutionen gegenüber Herstellerfirmen zu denken.
- Die wissenschaftliche Begleitung von Epidemie und Erkrankung hat hohes Gewicht. Studien sind notwendig, die individuelle Risiken, den Erfolg klinischer Interventionen sowie die Pathophysiologie bei COVID-19 ebenso wie die Risikofaktoren und Wege der Verbreitung erfassen. Die koordinierte Erfassung, Aufbereitung und Bereitstellung der epidemiologischen Daten muss sichergestellt sein.
- Die Maßnahmen zur Sicherstellung größtmöglicher Kapazitäten zur stationären (insbesondere intensivmedizinischen) Krankenversorgung müssen fortgesetzt werden.
- Forschung und Studien zur Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen müssen unterstützt werden.
- Die Ausbreitung von SARS-CoV-2 in der asymptomatischen Bevölkerung muss durch Stichproben und Sentinelstudien (derzeit genetischer Virusnachweis, bei Verfügbarkeit durch Antigen-basierte Tests/serologische Methoden) verfolgt werden.
Es ist zu betonen, dass die wissenschaftlich mögliche Begründung vieler Maßnahmen sich rapide entwickelt, und dass derzeit auch auf Basis einer wissenschaftlichen Plausibilität argumentiert werden muss. Die ständige Re-Evaluation aller Maßnahmen ist unerlässlich.
Wir halten die Beschlüsse der Bundes- und Länderregierungen vom 22. März 2020 insbesondere deshalb für ein positives Signal, da sie die Bereitschaft zeigen, politische Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu treffen. Wir regen an, bei der Entscheidungsfindung neben virologischer vermehrt auch Expertise aus Infektionsepidemiologie, Krankenhaushygiene und Infektionsprävention heranzuziehen.
Die DGHM, ihre Mitglieder und ihr Vorstand stehen zur Unterstützung bei Entscheidungen über die vielfältigen öffentlichen Maßnahmen zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Georg Häcker, Prof. Dr. Martin Aepfelbacher, Prof. Dr. Helmut Fickenscher, Prof. Dr. Frauke Mattner, Prof. Dr. Jan Buer, Prof. Dr. Sven Hammerschmidt, Prof. Dr. Ulrich Vogel, Prof. Dr. Mathias Herrmann
Das Schreiben der DGHM an den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn:
Stellungnahme der DGHM zur Ausbreitung von SARS-CoV in Deutschland